Noch nie gab es so viele Übergriffe auf Geflüchtete und deren Unterkünfte wie im vergangenen Jahr. So zählte die Amadeu Antonio Stiftung 2015 deutschlandweit mehr als 1.100 Angriffe auf Geflüchtetenunterkünfte und allein in Thüringen gab es 2015 mindestens 340 rassistische Straftaten und 71 polizeilich registrierte Übergriffe auf Geflüchtetenunterkünfte. Auch die Anzahl der Betroffenen von rassistischen Angriffen und rechter Gewalt nimmt stärker zu. Vor diesem Hintergrund haben die persönlichen Perspektiven der Betroffenen von rechter und rassistischer Gewalt eine besondere Relevanz, insbesondere für Geflüchtete mit einer unsicheren Bleiberechtsperspektive.
Dies war Anlass für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im Thüringer Landtag am 08. Juni 2016 ein Fachgespräch zu diesem Themenfeld durchzuführen. Im Rahmen des Gesprächs haben wir mit Expertinnen und Experten über die Perspektiven für eine Verbesserung der Situation der Betroffenen von rassistischer und rechter Gewalt gesprochen und darüber diskutiert, ob und wie es ein humanitäres Bleiberecht für Opfer von rassistischer und rechter Gewalt unter den Geflüchteten geben kann.
Christina Büttner von ezra – der Mobilen Beratung für Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt, berichtete dazu eingangs über die Entwicklung der rassistischen Übergriffe in Thüringen und die seit September 2013 verstärkt einsetzende rassistische Mobilisierung ausgehend von der extremen Rechten. Dies mündete in einen signifikanten Anstieg der Gewalttaten und Übergriffe gegen Geflüchtete sowie deren Unterkünfte. Die Hauptbotschaft der Täter*innen sei ganz klar: „Wir wollen Euch nicht hier haben!“.
Bei Menschen, insbesondere mit einem unsicherem Aufenthaltsstatus, die Opfer einer solchen rassistischen Gewalttat werden, gibt es bestimmte Besonderheiten die Beachtung finden müssen. So besteht bei vollziehbar ausreisepflichtigen Personen die Gefahr, dass sie bereits während des Ermittlungs-/Gerichtsverfahrens abgeschoben werden könnten. Zudem haben die meisten Geflüchteten keine oder nur wenig Vorkenntnis mit der bundesdeutschen Rechtsordnung und auch der Polizei wird teilweise misstrauisch begegnet, aufgrund von negativen Erfahrungen im jeweiligen Herkunftsland, auf der Flucht oder hier in Deutschland, beispielsweise im Rahmen der Vollstreckung von Abschiebungen.
Geschildert wurde die oft vorhandene Angst der Betroffenen, dass sich jeglicher Kontakt zur Polizei und Justiz negativ auf das Asylverfahren auswirken könne. Aufgrund von mangelhafter Hilfe der Strafverfolgungsbehörden sind außerdem sekundäre Viktimisierungen zu konstatieren. Die Menschen fühlen sich durch fehlerhaftes Verhalten der Strafverfolgungsbehörden ein zweites Mal zum Opfer gemacht. Auch fehlende Sprachkenntnisse hemmen die Bereitschaft eine Anzeige zu stellen.
Beate Wallek, Mitarbeiterin der Regionalen Arbeitsstellen für Bildung, Integration und Demokratie in Sachsen wies in ihrem Vortrag auf die wesentlichen Rechtsgrundlagen hin. So beinhalten sowohl das Grundgesetz, die Strafprozessordnung, die ERMK und die EU-Richtlinie über Mindeststandards für die Rechte, die Unterstützung und den Schutz von Opfern von Straftaten entsprechende Regelungen zum Opferschutz auch für Geflüchtete.
Zudem stellte sie mögliche Maßnahmen zur Verbesserung der Situation vor, beispielsweise den Ausbau einer professionellen rechtlichen und psychosozialen Beratungsstruktur, eine bessere Information über Unterstützungsangebote und vor allem die Überwindung der vorhandenen Sprachbarrieren durch die Bereitstellung und Übernahme von Dolmetscherkosten in Beratungskontexten. Auch könnte eine Check-Liste für die Polizei hilfreich sein und es sollten zur Abklärung von Verletzungsfolgen ärztliche Untersuchungen durchgeführt werden. Besonders wichtig sei außerdem die Schaffung einer stabilen Aufenthaltssituation, zum Beispiel durch Duldung bis mindestens zum Abschluss des Strafverfahrens, einer Therapie oder einem Entschädigungsverfahren oder durch Befassung der Härtefallkommissionen der Länder. Wenn ein Angriff im Umfeld einer Flüchtlingsunterkunft stattfindet, sollte für eine psychologische Stabilisierung auf jeden Fall die Möglichkeit eines Umzugs gegeben sein.
Franziska Nedelmann, Rechtsanwältin und Fachanwältin für Strafrecht aus Berlin erläuterte in ihrem Beitrag, dass es im Rahmen des Diskurses für ein humanitäres Bleiberecht nicht um eine Besserstellung der Betroffenen gegenüber anderer Opfergruppen gehe. Vor allem gehe es darum, die vornherein bestehende rechtliche Schlechterstellung von Opfern rassistischer und rechter Gewalt mit unsicherer Bleibeperspektive aufzuheben. Ziel sei eine stabile Aufenthaltssituation, die erst ein rechtstaatliches Verfahren ermögliche.
Ein humanitäres Bleiberecht wäre außerdem ein klares Signal gegen die Täter*innen, die mit ihrem Gewaltakt damit das Gegenteil ihres Ziels erreichen und es würde gleichfalls eine politische Verantwortungsübernahme des Staates bedeuten. Verfahren, die jedoch trotz Abschiebung fortgeführt werden, sind aus Sicht von Franziska Nedelmann kaum vernünftig zu führen. So sei der Kontakt mit den Mandant*innen nicht ohne Weiteres möglich. Das Fehlen von Zeugen führe zu Einstellungen der Verfahren und ende oft mit einem Freispruch.
Dass sich die Opfer eines rassistischen Übergriffs während des Strafverfahrens in Deutschland aufhalten, ist nicht nur für eine konsequente Strafverfolgung wichtig, sondern ist im Interesse der Öffentlichkeit. Über die Härtefallkommission kann eine Abschiebung eines Opfers verhindert werden, allerdings sind die Hürden dafür derzeit relativ hoch.
Dieter Lauinger, grüner Migrations- und Justizminister in Thüringen wies in seinem Beitrag daraufhin, dass vieles von dem, was auf Opfer rassistischer Gewalt unter Geflüchteten zutreffe, auch auf alle anderen Gewaltopfer übertragbar ist. Nichtsdestotrotz gebe es eine besondere Situation bei den Geflüchteten, die in Thüringen auch Beachtung finde.Mit Blick auf die Zunahme der Hasskriminalität sei vor allem auch eine gesellschaftliche Diskussion darüber zu führen, wie man diesem Anstieg bestmöglich begegne.
Um ein Bleiberecht während laufender Emittlungs- und Strafverfahren in Thüringen zu garantieren, gebe es in Thüringen die klare Absprache mit der Thüringer Generalstaatsanwaltschaft, dass für Opfer einer Straftat, die von einer Abschiebung bedroht sind Staatsanwaltschaften die Ausländerbehörden auf die Duldungsregelungen hinweisen und darum bitten, von der Abschiebung abzusehen. Dies verhindere jedoch nicht, dass Menschen in einigen Fällen trotzdem bereits ausgereist sind, beispielsweise in dem sie freiwillig ausreisen. Thüringen setzt bereits in der Polizei- und Justizausbildung auf Fortbildungen zu interkultureller Kompetenz. Für ein generelles Bleiberecht für Opfer rassistischer Gewalt sei jedoch Bundesrecht zu ändern. Dafür sei derzeit leider keine Mehrheit im Bundesrat zu finden. Daher brauche es eine wirksame Kampagne als Rückenwind für eine solche Initiative.
In der anschließenden Diskussion wurde abschließend deutlich, dass für ein generelles Bleiberecht von Opfern rassistischer Gewalt unter Geflüchteten noch viel zu tun ist. So brauche es vor allem eine politische Diskussion zur Stärkung des Opferschutzes insgesamt sowie eine Verknüpfung der Interessen von unterschiedlichen Opfergruppen. Der Aufbau von interkulturellen Kompetenzen ist durchaus zu begrüßen, allerdings darf dies nicht die dezidierte Auseinandersetzung mit dem gesellschaftlichen Phänomen des Rassismus ersetzen.