Interview

#KLARTEXT-Interview mit Anna Cavazzini: Brüssel ist für viele immer noch weit weg

Anna Cavazzini, Jahrgang 1982, studierte European Studies und Internationale Beziehungen in Chemnitz und Berlin. Sie war tätig als Referentin im Auswärtigen Amt, Schwerpunkt Vereinte Nationen, sowie für Campact. Zuletzt arbeitete sie als Referentin für Menschenrechte für die Nichtregierungsorganisation Brot für die Welt.

Am 26. Mai 2019 wurde sie in das Europäische Parlament gewählt und ist nun eines von insgesamt 75 Mitgliedern der Fraktion DIE GRÜNEN/Europäische Freie Allianz.

Madeleine Henfling: Anna, erst einmal herzlichen Glückwunsch zum Einzug in das Europäische Parlament. Wie hast du die ersten Tage in Brüssel erlebt? Was ist passiert?

Anna Cavazzini: Unsere ersten Tage waren sehr stark von konstitutiver Arbeit geprägt: Ausschusssitzungen, Fraktionssitzungen, Delegationssitzungen – in ziemlich vielen Treffen ging es zackig los mit Wahlen für Vorsitze. Daneben habe ich bereits unfassbar viele Briefe und E-Mails erhalten, die alle beantwortet werden wollen, das braucht natürlich Zeit und Aufmerksamkeit. Thematisch habe ich schon seit Tag 1 mit den Verhandlungen zum Handelsabkommen mit den Mercosur-Staaten ein Anliegen das mich stark beschäftigt – ich kritisiere, dass Menschenrechtsverletzungen und der Abholzung des Regenwalds im Abkommen fast nichts entgegengesetzt wird. Was mich überrascht hat war, wie schnell die erste Enttäuschung kam: Statt eine*r Spitzenkandidat*in wurde Ursula von der Leyen als Kommissionspräsidentin nominiert. Und sie hat in unserer Fraktionssitzung keinerlei Ambitionen gezeigt, die Politik in der EU wirklich progressiv zu ändern und den Wandlungswillen, den die Bürger*innen bei der Wahl ausgedrückt haben, ernst zu nehmen. Deshalb haben wir Grüne nicht für Ursula von der Leyen gestimmt.

Madeleine Henfling: Die grüne Fraktion ist so stark wie nie zuvor. Welche sind deine Schwerpunktthemen in der Fraktion und was willst du bezüglich deiner Schwerpunktthemen in der Legislatur erreichen?

Anna Cavazzini: Ich fokussiere mich auf eine faire Handels- und Entwicklungspolitik und einen sozialen und ökologischen Binnenmarkt. Menschenrechte und Umweltschutz müssen der EU ein Herzensanliegen sein, wenn Freihandelsabkommen verhandelt werden – dass das hier aktuell schiefläuft, sieht man ja in den momentanen Verhandlungen mit Mercosur, wo ein autokratischer, sexistischer und rassistischer Rechtsextremist in Brasilien nun scheinbar mit einem Handelsdeal ohne effektive Kontrollmechanismen belohnt werden soll. Es gibt also viel zu tun! Das werde ich als Mitglied des „INTA“ (Ausschuss für internationalen Handel) anpacken. Und auch innerhalb Europas müssen wir Verbraucher*innenrechte stärken: Themen die mir sehr am Herzen liegen, sind das Recht auf Reparatur und die Stärkung der Kommunen. Dafür sitze ich im „IMCO“, dem Ausschuss für Binnenmarkt und Verbraucherschutz.

Madeleine Henfling: Aktuell wird das Handelsabkommen zwischen der EU und den Mercosur Staaten diskutiert. Worum geht es dabei? Warum wird dieses Handelsabkommen so kritisch gesehen?

Anna Cavazzini: Mercosur ist ein Abkommen, was den Handel zwischen der EU und den Mercosur-Staaten, also Brasilien, Argentinien, Paraguay und Uruguay, liberalisieren wird. Es gibt bereits eine politische Einigung zwischen den beteiligten Staaten – nachdem 20 Jahre verhandelt wurde – und jetzt müssen Rat und Parlamente noch zustimmen. Wir betrachten das Abkommen – oder das was uns bisher davon bekannt ist – mit großer Sorge. Die Abholzung des Regenwalds hat unter dem brasilianischen Staatspräsidenten Bolsonaro neue Höchstwerte erreicht. Menschenrechtsverletzungen sind an der Tagesordnung. Es gibt nur einen weichen Kontrollmechanismus im Abkommen und Verstöße gegen Sozial- und Umweltstandards bleiben de facto ohne Folgen. Es stellt sich die grundsätzliche Frage, ob es sinnvoll ist, dass noch mehr Autoteile, SUVs oder Rindfleisch rund um den Globus geschickt werden, wenn wir in diesen Bereichen eigentlich eine Nachhaltigkeitswende brauchen.

Besonders schlimm ist das politische Zeichen, was von der politischen Einigung Anfang Juli 2019 ausgeht: Jair Bolsonaro wird für seine Verstöße gegen Menschenrechte und gegen das Pariser Klimaabkommen jetzt de facto mit einem „Mega-Deal“ belohnt und hat das in Brasilien auch schon öffentlichkeitswirksam ausgeschlachtet.

Madeleine Henfling: Wie sollten Handelsabkommen gestaltet sein, damit Welthandel fair, gerecht und nachhaltig ist?

Anna Cavazzini: Wir brauchen einklagbare Umwelt- und Sozialstandards. Klageprivilegien für Konzerne haben in Handelsabkommen nichts zu suchen. Es muss Umsetzungsmechanismen für das Pariser Klimaabkommen in Handelsabkommen geben. Denn es kann doch nicht sein, dass wir auf der einen Seite hier Klimaanstrengungen bestreiten und diese durch Handelsabkommen und die häufig einhergehende Produktionsausweitung in CO2-intensiven Bereichen wieder zunichtemachen. Ich werde außerdem für verbindliche Umwelt- und Sozialstandards entlang der Lieferkette streiten. Bisher reden sich Unternehmen wie KiK heraus, wenn es zu Unglücken in beispielsweise Textilfabriken kommt und wälzen die Verantwortung auf Subunternehmen ab. Mit all diesen Maßnahmen können wir die Globalisierung gerecht gestalten!

Madeleine Henfling: Welche Möglichkeiten gibt es, die Interessen von europäischen Regionen, wie beispielsweise Thüringen, noch besser in Brüssel zu vertreten?

Anna Cavazzini: Ich will zunächst einmal die EU stärker in die Region tragen, mit neuen spannenden Veranstaltungsformaten und über meine Social-Media-Kanäle. Brüssel ist für viele immer noch weit weg und ich möchte Mittlerin zwischen den beiden Ebenen sein. Ich habe auch schon viele Anregungen von Bürgerinnen und Bürgern im Wahlkampf aufgeschrieben und mitgenommen in meine dortige Arbeit. Viele Dinge, die in Brüssel beschlossen werden, gehen die Menschen vor Ort an. Wie darf der ÖPNV ausgeschrieben werden? Welche Standards zur Luftreinhaltung gibt es? Aber natürlich auch: Welche Produktstandards hat die Jeans, die ich in Erfurt oder Apolda kaufe? All diese Fragen möchte ich mit den Menschen vor Ort diskutieren.

 

*  Fotocredit: Martin Jehnichen