Interview

Europa steht vor weiteren Herausforderungen

Photo: Europäischens Parlament & Jan Kobel

Interview mit Daniel Freund zum Urteil des polnischen Verfassungsgerichtshofes, zur Rechtsstaatlichkeit und den damit verbundenen Herausforderungen für die Europäische Union

Das jüngste Urteil des polnischen Verfassungsgerichtshofes rüttelt an den Grundpfeilern der Europäischen Union, denn Polens Oberstes Gericht hatte zuvor den Vorrang des EU-Rechts vor nationalem Recht bestritten – entgegen dem bisherigen Konsens, den Verträgen sowie Grundwerten der EU.

Wie kam es zu diesem Urteilsspruch?

Das Urteil hatte der polnische Premierminister Mateusz Morawiecki im Frühjahr dieses Jahres verlangt. Damit wollte er auf mehrere Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) reagieren, der den Umbau des polnischen Justizsystems immer wieder für rechtswidrig befunden hatte. Der EuGH hat vor allem Zweifel an der Unabhängigkeit der polnischen Justiz. In bestimmten Fällen heißt das, dass europäische Institutionen die Rechtsprechung polnischer Gerichte unbeachtet lassen kann. Um das zu verhindern, entschloss sich Morawiecki, das sogenannte Verfassungstribunal zu fragen, ob die EU überhaupt über die Unabhängigkeit der polnischen Justiz urteilen darf. Dabei muss man sagen, dass das Tribunal selbst kein legitimes Gericht ist, da es fast ausschließlich mit Vertrauten der PiS-Regierung besetzt ist. Entsprechend lieferte es also die von der Regierung gewünschte Steilvorlage: EU-Recht sei nicht in Polen anwendbar, wenn es gegen die polnische Verfassung verstößt. Oder: „Der EuGH hat uns nichts zu sagen.“

Was bedeutet dieses Urteil für den europäischen Mitgliedsstaat Polen, für dessen Bürger*innen und die pro-europäische Zivilgesellschaft im Land?

Mit dem Urteil verabschiedet sich Polen aus der europäischen Rechtsordnung. Wenn der Vorrang des Unionsrechts in Polen nicht gesichert ist, können sich Bürger*innen und Unternehmen nicht darauf verlassen, dass ihre Rechte und Freiheiten dort garantiert sind. Das ist ein fatales Signal und öffnet Diskriminierung und Rechtsbrüchen Tür und Tor.

Das bedeutet auch, dass die Regierung keinen Breit von ihrem illegitimen Verfassungstribunal und den rechtswidrigen Disziplinarkammern, die unliebsame Richter*innen sanktionieren, abrückt. Für den polnischen Rechtsstaat und die Zivilgesellschaft ist das eine Katastrophe. Auf der einen Seite werden Bürger*innen ihre Rechte nicht mehr vor unabhängigen Gerichten einklagen können. Auf der anderen Seite wird die nationalkonservative Regierung das Verfassungstribunal in Zukunft wohl weiterhin nutzen, um hochumstrittene Gesetze absegnen zu lassen. Ich denke da zum Beispiel an das Urteil des Tribunals Ende letzten Jahres, wodurch Abtreibungen in Polen fast komplett verboten wurden. Insbesondere für Frauen, LGBTIQ-Personen, Migrant*innen und viele andere Gruppen, gegen die die PiS-Regierung hetzt, sind das also schlechte Neuigkeiten.

Was bedeutet dieses Urteil für die Gemeinschaft der Europäischen Union, gab es ein vergleichbares Urteil jemals in der Geschichte der EU in einem anderen Mitgliedsstaat?

Die polnische Regierung argumentiert immer wieder, dass die Aufregung um das Urteil überzogen sei, da es ähnliche Fälle bereits in der Vergangenheit gegeben hätte. Das stimmt so nicht. Zwar haben Gerichte in den Mitgliedstaaten tatsächlich schon geurteilt, dass europäische Institutionen ihre Kompetenzen überschritten haben. Das betraf allerdings immer klar eingegrenzte Bereiche des EU-Rechts. Das war beispielsweise beim Karlsruher Urteil über die EZB-Anleihenkäufe der Fall, das letztes Jahr viel Aufsehen erregt hat. Nie wurde vom Bundesverfassungsgericht jedoch der Vorrang des Unionsrechts allgemein in Frage gestellt. Der Vergleich der polnischen Regierung mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts hinkt also gewaltig.

Warum ist dieses Urteil so verheerend für den Zusammenhalt Europas?

Einheitlichkeit und Vorrang des Unionsrechts sind Grundpfeiler der europäischen Integration. Alle Mitgliedstaaten der EU müssen sich darauf verlassen können, dass überall die gleichen Spielregeln gelten. Diese Spielregeln sorgen zum Beispiel dafür, dass unsere Regierungen rechtsstaatliche Grundsätze und Bürgerrechte garantieren, Klimaziele einhalten oder Unternehmen fair miteinander konkurrieren können. Das funktioniert nur, weil der EuGH die Mitgliedstaaten zur Einhaltung der Regeln zwingen kann, zum Beispiel durch Androhung von Strafzahlungen.

Das polnische Verfassungstribunal legt dieses Prinzip jetzt aber auf Eis und sagt: „An Anordnungen des EuGH müssen wir uns nicht halten.“ Übersetzt heißt das, dass europäisches Recht gegenüber Polen nicht mehr einklagbar ist – es ist quasi außer Kraft gesetzt. So kann das europäische Rechtssystem nicht funktionieren.

Wie könnte und sollte die Europäische Kommission auf dieses Urteil reagieren, wie muss konsequentes Handeln aussehen?

Vorerst muss Polen der Geldhahn abgedreht werden. Finanzmittel aus dem Wiederaufbaufonds sind also genauso tabu wie eine Auszahlung von Fördermitteln, die von der Regierung verwaltet werden. Denn solange EU-Recht keinen Vorrang in Polen hat, können wir nicht sicherstellen, dass es auch für die Zwecke ausgegeben wird, für die es bestimmt ist.

Leider ist das Urteil das Ergebnis monatelanger Untätigkeit der Kommission. Seit mittlerweile 300 Tagen kann die Kommission mit dem neuen Rechtsstaatsmechanismus die Auszahlung von EU-Geldern an die Rechtstaatlichkeit knüpfen. Seit Januar fordert das Parlament die Kommission immer wieder auf, den Mechanismus endlich einzusetzen. Sogar mit Klage vor dem EuGH haben wir gedroht. Doch geschehen ist bisher nichts. Stattdessen setzen Ursula von der Leyen und ihre Kommission auf Dialog. Diese Strategie ist eindeutig gescheitert. Vielmehr hat das Zögern der Kommission Autokraten in der EU ermutigt, immer mehr rote Linien zu überschreiten. Es ist Zeit, dass sie endlich die Sprache spricht, die in Polen und Ungarn verstanden wird: Geld. Dass das ein wirksames Mittel ist, zeigt zum Beispiel das längst überfällige Einlenken einiger polnischer Regionen, die vor einigen Wochen endlich ihre „LGBT-freien Zonen“ abgeschafft haben. Die Kommission muss jetzt ein für alle Mal klar machen: ohne Rechtsstaat und effektive Kontrolle kann kein europäisches Steuergeld nach Polen fließen.