Feature

Einschätzung zum Ampel-Koalitionsvertrag

Bis zum 6. Dezember entscheidet die grüne Basis über den Koalitionsvertrag von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der FDP. Ich habe mir den Koalitionsvertrag einmal für meine Bereiche Innenpolitik, Europapolitik sowie Digitales, Kultur und Medien genauer angeschaut.

Innenpolitik, Kampf gegen extreme Rechte und Demokratieförderung

Im Bereich der Innenpolitik ist zu sagen, dass der Koalitionsvertrag alle wichtigen Themen hinsichtlich der Bekämpfung der extremen Rechten und der Unterstützung der Zivilgesellschaft bei der Arbeit vor Ort umfasst, gleichzeitig wird die Extremismustheorie beibehalten. Durch die Gleichsetzung von Links- mit Rechtsextremismus bleibt offen, ob ausreichend konsequent gegen rechte Gewalt und Strukturen vorgegangen wird.

Sehr positiv ist zu erwähnen, dass die Erfassungskriterien für politisch motivierte Kriminalität (PMK)  überarbeitet werden, dabei wird frauen- und queerfeindliche Hasskriminalität endlich besser erfasst. Hass im Netz wird bekämpft, die Entlassung aus dem Staatsdienst und Auskunftssperren im Melderegister vereinfacht sowie eine umfassende Strategie für Prävention, Deradikalisierung und Gefahrenabwehr aufgelegt.

Durch meine jahrelange Mitarbeit im Thüringer NSU-Untersuchungsausschuss ist es für mich ein besonders großer Erfolg, dass die Ampel-Koalition die Aufarbeitung des NSU weiter voranbringt und ein Archiv zu Rechtsterrorismus einrichten will. Für die Opfer des NSU wird es ein Erinnerungsort und ein Dokumentationszentrum geben.
Die Opferhilfe und das Entschädigungsrecht werden verbessert, die Koordinierungsstelle als Ombudsstelle in Deutschland ausgerichtet, aber ein echter Opferfonds für Betroffene rechtsextremer, rassistischer oder islamistischer Gewalt fehlt leider.

Mit dem Bekenntnis zum Demokratiefördergesetz sowie der Fortführung und gesicherten Finanzierung verschiedener Programme, darunter „Demokratie lebt“, schaffen wir endliche eine klare Perspektive mit mehrjähriger Förderung für die vielen wichtigen Projekte. Beratung, Prävention und zivilgesellschaftliche Arbeit werden gestärkt!

Im Bereich der Innenpolitik gibt es viele gute Maßnahmen. So wurde vereinbart, dass die Aus- und Fortbildung der Polizei insbesondere im Hinblick auf die Grund- und Menschenrechte weiterentwickelt werden soll. Die Einführung einer Polizeibeauftragten mit Akteneinsichts- und Zutrittsrechten ist wie auch die Einführung der Kennzeichnungspflicht eine wirkungsvolle Maßnahme, um das Vertrauen in die Polizei zu steigern.

Gerade im Hinblick auf den laufenden UA 7/1-Mafia-Untersuchungsausschuss im Thüringer Landtag ist der vereinbarte stärkere Kampf gegen die Organisierte Kriminalität sehr zu begrüßen. Die explizite Nennung der Clankriminalität erschließt sich in diesem Kontext aber nicht und dürfte eher Vorurteile befördern.

Die Vereinbarungen zu den Geheimdiensten gehen leider nicht so weit, wie es wünschenswert gewesen wäre. Zwar soll die Kontrolle und die wissenschaftliche Expertise gestärkt werden, jedoch ist dies nicht ausreichend. Im grünen Wahlprogramm wurden weitergehende Reformen beschlossen.

Europa

Im Koalitionsvertrag bekennen sich SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu einer starken Europäischen Union und mehr europäischer Integration. Es werden ambitionierte Ziele formuliert, wie beispielsweise das Bekenntnis zu einem Europa als föderale Republik – eine Forderung, die wir Bündnisgrüne schon lange haben. Um dies auf den Weg zu bringen, soll ein verfassungsgebender Konvent ins Leben gerufen werden.

Weiterhin spricht sich die Koalition für das Wahlalter ab 16 Jahre aus sowie für ein verbindliches Spitzenkandidatensystem mit transnationalen Listen bei den nächsten Europawahlen.

Zur Rechtsstaatlichkeit beinhaltet der Koalitionsvertrag präzise Formulierungen. Es soll ein Paradigmenwechsel auf europäischer Ebene vollzogen und Rechtsstaatlichkeit konsequent durchgesetzt werden. Die Koalition wird in Zukunft maximalen Druck ausüben, wenn Rechtsstaatlichkeit in einem Mitgliedsstaat der Europäischen Union verletzt wird.

Der Stabilitäts- und Wachstumspakt der EU soll weiterentwickelt und eine Investitionsoffensive auf den Weg gebracht werden. Dabei sollen Kriseninstrumente zur wirtschaftlichen Stabilisierung erhalten bleiben, nachhaltige und klimafreundliche Investitionen werden ermöglicht. Dies soll gemeinsam mit europäischen Partner*innen geschehen, wobei transnationale Projekte wie der Lückenschluss im europäischen Schienen- und Energienetz im Fokus stehen.

Die Koalitionsfraktionen wollen außerdem die gemeinsame Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU (GASP) stärken. So soll das bisherige Einstimmigkeitsprinzip im EU-Minister*innenrat durch Abstimmungen mit qualifizierter Mehrheit ersetzt werden, der Europäische Auswärtige Dienst soll reformiert und gestärkt werden – ebenso die Rolle einer echten „EU-Außenministerin“ oder eines echten „EU-Außenministers“. Bei der Verordnung des Verteidigungsfonds soll das Europäische Parlament endlich ein Mitsprache- und Kontrollrecht erhalten.

Bündnisgrüne Forderungen, Europa sozial und gerecht zu gestalten, konnten zu wenig durchgesetzt werden. Zwar ist im Koalitionsvertrag das Vorhaben festgehalten, die Säule sozialer Rechte umzusetzen und soziale Ungleichheiten in den Mitgliedsstaaten zu bekämpfen, allerdings fehlt es an konkreten Vorhaben wie die Forderung nach der Einführung einer Kindergrundsicherung oder einer Bürger*innen- bzw. Arbeitslosenversicherung in der Europäischen Union.

Die Absicht der Koalition, Erasmus+ zu stärken, beschränkt sich lediglich auf den Hochschulbereich. Bündnisgrüne machen aich schon lange dafür stark, dass alle jungen Menschen in der EU unabhängig vom Geldbeutel ihrer Eltern und von der Schule, die sie besuchen, während ihrer Schulzeit, ihrer Ausbildung oder ihres Studiums die Chance haben, an einem Austausch mit dem europäischen Ausland teilzunehmen.

Bündnisgrüne konnten nicht erreichen, dass das Einstimmigkeitsprinzip dem Mehrheitsprinzip weicht – lediglich bei der Außen- und Sicherheitspolitik konnten dies durchgesetz werden. Viele Initiativen werden im Rat aufgrund des Einstimmigkeitsprinzips, also der Zustimmung aller Mitgliedsstaaten, blockiert.

Die Forderung, mehr Transparenz in der EU-Gesetzgebung durch die Einführung eines „legislativen Fußabdrucks“ zu schaffen, konnte sich nicht durchsetzen. Durch diesen wäre die Einflussnahme Dritter für alle Bürger*innen überprüfbar.     

Obwohl es einige wichtige Forderungen nicht in den Koalitionsvertrag schafften, haben wir ein wertvolles Europakapitel vorliegen mit vielen grünen Anliegen wie der Wahlrechtsreform, einer föderalen Republik oder der Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit. Mit Annalena wird zum ersten Mal eine Frau Außenministerin. Interessant wird auch das genannte Vorschlagsrecht für eine grüne EU-Kommissarin oder einen grünen EU-Kommissar. Wie realistisch dies ist, wird sich zeigen, plädiert man doch für transnationale Listen und ein verbindliches Spitzenkandidat*innensystem bei der nächsten Europawahl 2024.

Digitales

Der Bereich Digitalisierung stellt exemplarisch dar, wie die Vision eines modernen Staates unter einer Ampelregierung Gestalt annehmen kann. Im Mittelpunkt steht eine bürgernahe moderne Verwaltung.

Die Chancen der Digitalisierung sollen echte Wirksamkeit entfalten. Dafür haben sich die drei Parteien auf einen neuen Umgang von Bürger*innen und Verwaltung geeinigt. Digitalisierung soll künftig konsequent von den Nutzer*innen her gedacht werden. Offenheit und Transparenz sollen leitendes Prinzip werden. Dafür wird ein Transparenzgesetz verabschiedet, Open-Source-Lösungen bei öffentlicher Software als Standard gesetzt und Standards vereinheitlicht.
Ein Bundes Dateninstitut wird OpenData clever und nachhaltig nutzbar machen, damit Informationen, die mit öffentlichen Geldern erhoben werden.

Dadurch werden auch IT-Sicherheit und digitale Bürgerrecht konsequent gestärkt. Quelloffene Software, die datensparsam arbeitet ist dabei eine Maßnahme. Das Maßnamenpaket wird durch das Recht auf Verschlüsselung, security by design bzw. by default, der Haftung für IT-Sicherheit durch Softwarehersteller, eine Stärkung des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik, staatliche Meldepflicht für Sicherheitslücken, der Abschaffung des Hackerparagraph und der Ablehnung von Hackbacks.

Als Grundlage einer digitalen Teilhabe wird der Breitbandausbau wesentlich stärker in den Fokus gerückt und Zukunftstechnologien wie, Künstliche Intelligenz (KI), Quantentechnologien, Cybersicherheit, Distributed-Ledger-Technologie (DLT), Robotik und weitere Zukunftstechnologien verstärkt gefördert.

Kultur und Medien

Der Koalitionsvertrag bekennt sich klar zum öffentlich-rechtlichen Rundfunk und zur Unabhängigkeit der Presse. Für eine nachhaltige und zukunftsfähige Journalismusförderung haben BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im Mai 2021 bereits Vorschläge erarbeitet, denen wir konsequent nachgehen wollen.

Der Kulturbereich ist du die Corona-Pandemie besonders stark betroffen. Die Koalition möchte die Kulturbranche daher zukünftig krisensicherer aufstellen. Dafür will die Ampel-Koalition Kultur als Staatsziel aufnehmen und ein Neustart-Kultur-Programm auflegen. Zusätzlich wird die Künstler*innen-Sozialkasse gestärkt und ein Mindesthonorar für Künstler*innen geschaffen.