Der Ausschuss für Europa, Kultur und Medien des Thüringer Landtages besuchte vom 5. bis 8. November 2023 zum ersten Mal Straßburg und damit die Stadt, in der das Europäische Parlament neben Brüssel 12 Mal im Jahr für jeweils vier Sitzungstage zusammenkommt.
Als ersten Termin besuchte die Thüringer Delegation, geleitet von mir als stellvertretende Ausschussvorsitzende, den Europarat. Am 5. Mai 1949 als erste internationale Organisation nach dem Zweiten Weltkrieg von 10 Staaten (Belgien, Dänemark, Frankreich, Irland, Italien, Luxemburg, Niederlande, Norwegen) gegründet, gehören gegenwärtig 46 Staaten dem Europarat an (neben den 27 EU-Mitgliedsstaaten u.a. auch Albanien, Armenien, Moldau, Mazedonien, Aserbaidschan, Türkei, Schweiz).
Er vertritt damit 700 Millionen Menschen. Dessen Hauptaufgabe besteht darin, Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Europa und darüber hinaus zu schützen und zu fördern. Um dies zu gewährleisten, erarbeiteten die Mitgliedsstaaten bislang 220 Übereinkommen und Protokolle, wie beispielsweise die Europäische Sozialcharta, die Antifolter-Konvention, die Konvention zum Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung und sexuellem Missbrauch, die Konvention zur Verhütung und Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt („Istanbul-Konvention“) und die Europäische Konvention für Menschenrechte, die von allen Mitgliedsstaaten des Europarates ratifiziert wurde und 1950 in Kraft trat. Zu einer der größten Errungenschaften des Europarates zählt die Abschaffung der Todesstrafe, die seit 1997 nicht mehr in den Mitgliedsstaaten ausgeführt wird.
Mathieu Mori, Generalsekretär des Kongresses der Gemeinden und Regionen und Hansgeorg Beine, Beigeordneter Ständiger Vertreter der Bundesrepublik Deutschland beim Europarat, gaben uns einen Überblick über die Arbeitsweise und Organisationsstruktur des Europarates: Die Generalsekretärin (derzeit Marija Pejčinović Burić aus Kroatien), das Minister*innenkomitee, die Parlamentarische Versammlung, der Kongress der Gemeinden und Regionen, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, die Menschenrechtskommissarin (derzeit Dunja Mijatović aus Bosnien und Herzegowina) und die Konferenz der internationalen Nicht-Regierungsorganisationen spielen zentrale Rollen beim Schutz von Menschenrechten, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.
So ist es beispielsweise Hauptaufgabe des Kongresses der Gemeinden und Regionen, die Demokratie vor Ort zu schützen: Mindestens einmal in fünf Jahren besuchen dessen Vertreter*innen jeden Mitgliedsstaat um zu überprüfen, inwieweit verabschiedete Konventionen eingehalten werden und welche Maßnahmen im Mitgliedsstaat auf den Weg gebracht werden müssen, um Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu sichern. Verstöße werden öffentlich gemacht. Vertreter*innen sind auch bei Wahlen vor Ort, um deren rechtskonforme Durchführung zu beaufsichtigen. Gegenwärtig sind Vertreter*innen des Europarates und Vertreter*innen der ukrainischen Regierung im regen Austausch darüber, welche rechtlichen Regelungen nach dem Krieg gelten sollen.
Bei der Entwicklung der europäischen Gesellschaft spielen junge Menschen eine Schlüsselrolle. Daher war es uns ein großes Anliegen, das Europäische Jugendzentrum als Jugendbereich des Europarates zu besuchen und den neuen Leiter Tobias Flessenkemper zu treffen. In Straßburg und Budapest nehmen jährlich mehr als 5.000 Jugendliche an Studientagen, Seminaren oder Praktika teil, mehr als 15.000 Jugendliche profitieren weiterhin von Projekten, die vom Europäischen Jugendfonds zur Förderung des Verständnisses, der Toleranz und der Solidarität unterstützt werden. Die Aktivitäten des Europäischen Jugendzentrums sollen die europäische Zivilgesellschaft und insbesondere junge Menschen stärken,
zur Aufrechterhaltung der Menschenrechte und der kulturellen Vielfalt beitragen und den sozialen Zusammenhalt und die Beteiligung junger Menschen fördern. Jugendliche sollen zu Akteur*innen der Demokratie befähigt werden, um sich in der Gesellschaft aktiv einbringen zu können.
Über die Einhaltung der Europäischen Menschenrechtskonvention in den 46 Mitgliedsstaaten des Europarates wacht der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. Staaten und auch Einzelpersonen können sich an ihn wenden. Seine Urteile sind für die betreffenden Staaten bindend. Axel Müller-Elschner, bereits seit 23 Jahren Rechtsreferent in der Kanzlei des Gerichtshofes, berichtete, dass ca. 100 Verfahrensanträge am Tag im Gerichthof eingehen. Ein großer Teil davon wird allerdings aus formellen Gründen abgelehnt. Beispielsweise muss der innerstaatliche Gerichtsweg ausgeschöpft sein, um einen erfolgreichen Antrag beim Europäischen Gerichtshof zu stellen.
Der Gerichtshof hat so viele Richter*innen wie Mitgliedsstaaten, die von der Parlamentarischen Versammlung des Europarates auf Vorschlag des Mitgliedsstaates für die Dauer von neun Jahren gewählt werden. Für Deutschland ist seit 2020 Anja Seibert-Fohr Richterin beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Je nach Komplexität fällt ein*e Richter*in das Urteil oder Gruppen aus drei, sieben oder 17 Richter*innen. Dabei kommen die Richter*innen nie aus den Mitgliedsstaaten, aus denen die Beschwerdeführerin oder der Beschwerdeführer kommt. Seit 1959 fällte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte fast 25.700 Urteile, wobei die meisten die Türkei betrafen (3.900), die wenigsten den Mitgliedsstaat des Europarates Monaco (4). 363 Fälle betrafen Deutschland. Derzeit liegen den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte 75.000 Verfahren vor, über die geurteilt werden muss.
Der zweite Tag startete mit der Begehung des UNESCO-Weltkulturerbes Wilhelminische Neustadt, die auch als deutsches Viertel oder Kaiserviertel bezeichnet wird. Sie ist das Ergebnis der in den 1880er Jahren begonnenen Stadterweiterung außerhalb der historischen Stadtbefestigungen. Dem voraus ging der Deutsch-Französische Krieg, der 1871 mit dem Frieden von Frankfurt endete.
Die Republik Frankreich musste das Elsass und Lothringen an das neu gegründete Kaiserreich abtreten. Straßburg wurde Hauptstadt des sogenannten Reichslandes Elsass-Lothringen. Reichsland bedeutete die administrative Führung durch einen kaiserlichen Statthalter. Die deutsche Annexion führte zu einer umfangreichen Einwanderung nach Straßburg, dessen Bevölkerung sich zwischen 1870 und 1915 von 80.000 auf 180.000 Einwohner*innen mehr als verdoppelte. Mit dem Bau des deutschen Viertels, der sich bis in die 1950er Jahre fortsetze, verdreifachte sich das Stadtgebiet, das Stadtbild veränderte sich maßgeblich. Es wurden nicht nur Wohnungen geschaffen, sondern ebenso Verwaltungsgebäude, die die damalige Macht und Modernität des Deutschen Reiches wiederspiegelten. Das Ergebnis ist eine Stadt, die den technischen Fortschritt und die Hygienepolitik (z.B. fließendes Wasser) an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert abbildet. Die Neustadt besteht heute aus mehreren Stadtteilen und Sektoren in verschiedenen „Neo“-Stilen (Neo-Renaissance, Neo-Gotik, Neo-Klassik, Neo-Romanik und sogar Neo-Byzantinischer Stil) und im Jugendstil. Sie gilt als eines der besterhaltenen Beispiele wilhelminischer Architektur und Stadtplanung. Im Juli 2017 wurde die Neustadt in die Welterbeliste der UNESCO aufgenommen und ist damit neben dem historischen Stadtzentrum die zweite Welterbestätte Straßburgs. Die Einstufung wird auch als Zeichen der Aussöhnung zwischen der französischen und der deutschen Identität der Stadt (Deutsche Architektur als französisches Kulturerbe) gesehen.
Was es bedeutet, ein Weltkulturerbe über die Jahrhunderte zu erhalten, wurde uns am Beispiel der Kathedrale Liebfrauenmünster, dem Wahrzeichen von Straßburg, anschaulich von Dr. Sabine Bengel dargestellt. Sie ist seit 2018 Kunsthistorikerin der Münsterbauhütte, die vor 800 Jahren vom Domkapitel gegründet wurde, um Spenden zur Finanzierung der geplanten Kathedrale zu sammeln und den Bau zu bewerkstelligen. Heute ist sie eine weltliche Struktur, die von der Stadt Straßburg getragen wird und die die Erhaltung und Sanierung des Liebfrauenmünsters als wesentliches Ziel hat. Dabei erledigt sie in erster Linie Arbeiten am Stein und tägliche Unterhaltsarbeiten, während andere Gewerke von der staatlichen Denkmalpflege an private Unternehmen vergeben werden. Die Bauhütte finanziert sich zum Großteil aus der Verwaltung ihrer Immobilien und Liegenschaften sowie aus dem Kartenverkauf für den Turmaufstieg. Da die Bauhütte eine privatrechtliche Stiftung ist, kann diese Spenden und Schenkungen zum Erhalt des Münsters entgegennehmen.
Der anschließende Termin führte uns zum deutsch-französischen Gemeinschaftsprojekt arte.
Der öffentlich-rechtliche Fernsehkanal mit Sitz in Straßburg wurde am 30. Mai 1992 mit dem Ziel gegründet, einen Kulturkanal für alle Menschen in Europa zu schaffen, um das Verständnis und die Annäherung zwischen den Völkern in Europa zu festigen. Inzwischen stammen 85 Prozent der
arte-Produktionen aus Europa, die in sechs Sprachen (Französisch, Deutsch, Spanisch, Italienisch, Polnisch, Englisch) verfügbar sind. Der Sender erreicht damit 70 Prozent der Europäer*innen digital und im linearen Fernsehen in ihrer jeweiligen Muttersprache. Arte wird zu 95 Prozent aus öffentlichen Mitteln finanziert, wobei 50 Prozent aus Deutschland kommen (Rundfunkbeitrag). Der Sender zeigt in seinen zahlreichen Formaten wie beispielsweise „arte Europa – die Woche“ oder dem „arte Journal“ unterschiedliche europäische Perspektiven auf aktuell diskutierte Themen. Dies wird von der Europäischen Kommission mit Fördergeldern unterstützt, damit die Angebotsstruktur des Senders noch europäischer ausgerichtet werden kann.
Der letzte Termin der Delegationsreise führte uns zu Jean-Baptiste Cuzin, dem Direktor für grenzüberschreitende, internationale und europäische Zusammenarbeit der Région Grand Est.
Die Region hat sich 2016 durch Gesetz im Rahmen einer 2014 beschlossenen Reform der französischen Regionen durch die Fusion der früheren Regionen Elsass, Champagne-Ardenne und Lothringen gebildet. 8,4 Prozent (5,6 Millionen) der französischen Bevölkerung leben in dem Gebiet, dass von Straßburg aus durch gewählte Rät*innen verwaltet wird. Diese haben Verordnungs-, allerdings keine Gesetzgebungsbefugnis. Die Région Grand Est verfügt über ein jährliches Budget von 4,3 Milliarden Euro und über eine Abteilung, die sich ausschließlich mit Fördermitteln in der EU befasst.
Sieben Mitarbeiter*innen sind in deren ständiger Vertretung in Brüssel tätig, um nah an der europäischen Politik zu sein und Kooperationen mit anderen Mitgliedsstaaten auf den Weg zu bringen.
Die diesjährige Delegationsreise des Ausschusses für Europa, Kultur und Medien des Thüringer Landtages nach Straßburg hat einmal mehr gezeigt, wie wichtig es ist, die Institutionen Europas zu stärken.
Die Aufgabe des Europarates, Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu bewahren und zu fördern, ist grundlegend für das Funktionieren unserer freiheitlichen Gesellschaft und grundlegend für den Zusammenhalt der Europäischen Union. Es ist wichtiger denn je, Projekte auf den Weg zu bringen und zu unterstützen, die europäische Werte und den europäischen Gedanken fördern, sei es mit Jugendlichen, im kulturellen Bereich oder durch ein internationales Medienabgebot.