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„Es gibt noch viel zu viele lose Enden“

Am 4. November 2015 jährte sich die Selbstenttarnung des NSU durch die Selbstmorde der beiden Haupttäter Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt in Eisenach zum vierten Mal. Der Thüringer Landtag und auch der Bundestag haben mittlerweile bereits ihren zweiten Untersuchungsausschuss zur Aufklärung und Aufarbeitung der Ursachen und Versäumnisse, die zu den schrecklichen Morden des NSU führen konnten, eingerichtet. Wir haben mit der freien Journalistin und Politologin Andrea Röpke über Aufklärung und notwendige Konsequenzen gesprochen.

1. Wo sehen Sie den Stand der Aufklärung vier Jahre nach der Selbstenttarnung des NSU? Sind wir über die Spitze des Eisbergs schon hinaus?

Es erinnert Vieles an die Nichtaufklärung von 1980. Der rechte Anschlag auf das Oktoberfest war das größte Massaker der bundesdeutschen Geschichte seit 1945 und doch wissen wir kaum etwas über die politischen Hintergründe. Auch damals blockierten die Geheimdienste, Neonazi-Netzwerke blieben unbehelligt, Zeugen wurden nicht befragt. In der Geschichte rechten Terrors ähneln sich die Aufklärungsmuster.

So ist es auch im Fall der Taten des NSU. Entscheidende Fragen sind im Zusammenhang mit den zehn Morden und den Bombenanschlägen nicht geklärt. Besonders ernüchternd war auch die Erkenntnis, dass einige Inlandsgeheimdienste und Polizeibehörden trotz einer hohen Mitverantwortung an der Nichtaufklärung nicht zur Verantwortung gezogen wurden. Im Gegenteil: sie mauerten, behinderten erfolgreich und der Verfassungsschutz wird sogar noch aufgestockt. Das ist mehr als frustrierend und beschämend gegenüber den Opfern.

Natürlich kochen jetzt mit den Aussage-Ankündigungen der Hauptangeklagten Zschäpe und des Mitangeklagten Wohlleben noch einmal die Erwartungen hoch. Aber beide sind überzeugte Neonazis, die nun taktieren, jedoch wohl kaum weitere rechte Unterstützer ans Messer liefern werden. Ich befürchte, dass es emotionale Verteidigungsstrategien werden, um den ganzen Terrorprozess noch weiter zu entpolitisieren.

2. Wo gibt es aus Ihrer Sicht noch die größten Fragezeichen? Wo müssen ggf. auch die Untersuchungsausschüsse des Bundes oder der Länder noch stärker nachforschen?

Da gibt einige ganz zentrale Punkte, unter anderem: Wer half dem NSU-Trio tatsächlich bei der Vorbereitung der Verbrechen? Wie kommunizierte das Netzwerk untereinander? Und wie viel war grundsätzlich von den Verbrechen in Teilen der militanten Szene bekannt?

Als Beate Zschäpe nach dem Tod der beiden Mitstreiter durch die halbe Republik floh, wird sie sich Hilfe erhofft haben. Dieser Punkt ist völlig unklar. Ebenso auch die Frage, wer zeitgleich, als sie durch Sachsen flüchtete, eine Bekenner-DVD in Nürnberg in den Briefkasten der „Nürnberger Nachrichten“ warf. Warum wurden die meisten Morde in Bayern begangen und warum behinderten einzelne Verantwortliche die Aufklärung der Ceska-Mordserie?

Die größten Rätsel geben jedoch die Morde in Heilbronn und Kassel auf. Warum wurde ausgerechnet die thüringische Polizistin Michele Kiesewetter zum Opfer und waren wirklich nur Mundlos und Böhnhardt beteiligt? Ich glaube hier ebenso wenig an einen Zufall wie im Fall der Anwesenheit des V-Mann-Führers Andreas Temme am Tatort in Kassel.

Es gibt noch viel zu viele lose Enden. Ich erhoffe mir dazu noch mehr Druck vom zweiten Untersuchungsausschuss im Bundestag. Dort könnten unter anderem Fragen nach der sogenannten NSU-DVD geklärt werden. Diese kursierte bereits um das Jahr 2005 und wirft die Frage auf, seit wann die Behörden tatsächlich von der Existenz der Untergrundgruppe wussten. Auffällig ist auch, dass anscheinend viele Vernehmungen – insbesondere was Neonazi-Kontakte angeht – nur unzureichend verfolgt wurden. An entscheidenden Punkten wurde oft nicht nachgehakt. Neonazis missachten die deutsche Justiz, damit hat man sie allzu häufig durchkommen lassen. Es lässt sich Vieles auflisten….

3. In der Presse fußt der NSU-Komplex auf der Trio-Theorie. Ist dies nach dem heutigen Erkenntnisstand nicht zu eng gefasst? Welchen Beitrag können und müssen die Medien aus Ihrer Sicht zur Aufklärung des NSU-Komplexes leisten?

Natürlich gehen wir nicht nur von einem Trio aus. Gemeinsam mit einem kleinen Kreis von Kollegen und Kolleginnen haben wir in unserem Buch „Blut und Ehre“ auf den hohen Vernetzungsgrad der militanten rechten Szene hingewiesen und zahlreiche Zeugenberichte aufgelistet, die auf weitere Helfer hindeuten. Eines der Indizien, die dafür sprechen, dass die Szene stärker involviert war, ist der Umstand, dass zwei der treuesten Unterstützer bis zuletzt Kontakte ins gewaltbereite Milieu in Sachsen und Niedersachsen hatten.

Die Medien sollten sich nicht davon abbringen lassen, die Behauptung von Generalbundesanwaltschaft und Vorsitzendem Richter, es handele sich ausschließlich um ein Trio, in Frage zu stellen! Ebenso sollten die Medien weiterhin Druck machen, was die Nichtaufklärung im Fall vor allem der Morde von Heilbronn und Kassel angeht. Auch würde ich mir wünschen, dass es im Umfeld der anstehenden Aussagen von Zschäpe und Wohlleben weniger zu einem Hype kommt, als dass deren Strategie und Aussagen in Ruhe hinterfragt und geprüft werden.

4. Beate Zschäpe sitzt auf der Anklagebank vor dem Oberlandesgericht in München. Häufig wird ihr traditionellen Geschlechterrollen entsprechend eine häusliche oder passive Rolle zugewiesen. Wie bewerten Sie den laufenden Gerichtsprozess? Und wie beurteilen Sie die Rolle Beate Zschäpes innerhalb des NSU-Komplexes (Mitläuferin oder Mittäterin)?

Beate Zschäpe ist keine Mitläuferin. Sie hat sich in den 1990er Jahren gemeinsam mit Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt radikalisiert, war Teil einer frühzeitig militant antisemitisch und rassistisch auftretenden Jenaer Szene. Sie log für die Kameraden und ging 1998 nach dem Sprengstofffund bewusst mit in den Untergrund. Videoaufnahmen der eigenen Überwachungskameras, die das „normale“, bürgerlich getarnte Leben im Zwickauer Unterschlupf zeigen, erwecken den Eindruck, sie hätte sogar zum Teil das Sagen gehabt.

Es ist bis heute unklar, wie sie vom Tod der beiden engsten Mitstreiter erfuhr, doch sie stellte sich nicht, sondern führte den Terrorplan zu Ende, indem sie das Versteck in Brand setzte und einen Teil der Bekenner-DVD mit dem Paulchen-Panther-Logo verbreitete. Sie rief Kameraden an, die ihr halfen, und floh höchstwahrscheinlich zu weiteren Kameraden, die ihr helfen sollten. Das sind alles klare politische Verhaltensregeln. Sie hat sich daran gehalten.

Ebenso kann ihr langes Schweigen, ihre Nichtregung, das Verweigern von Reue als eindeutiges politisches Statement angesehen werden. Ich finde es auch besonders aussagekräftig, dass sie in der Haft nicht zu irgendjemandem Briefkontakt unterhielt, sondern zu einem gefährlichen Neonazi, der selbst einer Terrorzelle in Nordrhein-Westfalen angehörte und auf einen Mann geschossen hat. Wenn Zschäpe jetzt aussagen will bzw. ihren Anwalt eine Aussage verlesen lässt, dann wird sie meines Erachtens nur eine Sicherungsverwahrung verhindern wollen.

5. Angesichts der steigenden Flüchtlingszahlen kommt es wieder zunehmend zu rechtsextrem motivierten Straftaten. Die Stimmung vielerorts ist besorgniserregend. Welche Lehren aus der Aufarbeitung des NSU-Komplexes können uns aus Ihrer Sicht heute dabei helfen, angemessen auf die zunehmende Gewaltbereitschaft und sprachliche Verrohung auch aus der Mitte der Gesellschaft zu reagieren?

Es werden wieder die falschen Zeichen gesetzt. Wir haben über 700 Brandanschläge gegen Flüchtlinge und nur die wenigsten davon werden tatsächlich aufgeklärt. Ich hätte gehofft, dass die Generalbundesanwaltschaft die Ermittlungen übernimmt und die Anschläge in einen politischen Kontext setzt. Denn diese Taten werden oft dort begangen, wo militante Neonazi-Strukturen vorkommen. Sie erfolgen oft in Folge vorheriger verbaler Hetze von regionalen Anti-Asyl-Gruppen. Eine Übernahme durch die höchste deutsche Justizbehörde hätte gezeigt: Wir nehmen das sehr, sehr ernst!

Im Fall des fürchterlichen Messer-Angriffs auf die Kölner Oberbürgermeisterin fühlte sich die Karlsruher Behörde sofort zuständig. Eine deutsche Politikerin als Opfer und schon wird von höchster Stelle ermittelt. Brennen dagegen ganze Häuser für Flüchtlinge ab, dann ist die örtliche Polizeistation zuständig. Das ist keine gute Symbolik.

6. Welche Lehren müssen aus Ihrer Sicht unsere staatlichen Institutionen aus dem NSU-Terror ziehen? Ist unsere derzeitige Sicherheitsarchitektur mit V-Leuten und Verfassungsschutz angemessen?

Nein. Meiner Meinung nach bräuchten wir dringend mehr vernünftige Aufklärung und weniger Geheimdienst im Land. Rechte Terroristen agieren aus einem fanatischen, rassistischen Werteverständnis heraus. Ihren Taten gehen oft kleinere Anschläge und Straftaten voraus. Darüber muss nachhaltig aufgeklärt werden. Rechter Terror sucht sich oft die schwächsten Glieder der Gesellschaft, die keine Lobby haben. Wir benötigen endlich eine mutigere Offenlegung rassistischer Strukturen in der Bundesrepublik. Große Aufklärungsdefizite gibt es übrigens auch bei Polizei und Justiz. Zu viele Beamte erkennen neonazistische Merkmale und Hintergründe nicht. Das hat sich auf verheerende Weise auch im NSU-Verfahren gezeigt.

Geheimdienste scheinen ihren eigenen Interessen zu folgen. Der Aufklärung von Verbrechen wie im Falle der NSU-Morde stellen sie sich mit Aktenvernichtung, Falschaussagen, Quellenschutz und Verweigerung entgegen. Wie soll die Bevölkerung so einem Apparat trauen? Auch die V-Mann-Politik des Verfassungsschutzes muss umgehend beendet werden, denn sie ist gefährlich und völlig ineffektiv. Mehrere Dutzend hochbezahlter Spitzel im direkten Umfeld des NSU haben mindestens zehn Morde und viele Verletzte nicht verhindert.

Über Andrea Röpke:

Jahrgang 1965, Politologin und freie Journalistin, Spezialgebiet: Rechtsextremismus, Veröffentlichung ihrer aufwendigen Inside-Recherchen im Neonazi-Milieu in Fernsehmagazinen wie Monitor, Panorama und Spiegel-TV, in der taz und bei Süddeutsche-Online sowie in Fachportalen wie „Blick nach rechts“, zahlreiche Auszeichnungen, darunter »Das unerschrockene Wort« (2009), „Journalistin des Jahres“ (Kategorie Politik, 2011) und den Paul Spiegel-Preis für Zivilcourage 2015