Interview

#KLARTEXT-Interview mit Daniel Freund: Europäische Union muss demokratischer, transparenter und effektiver werden

Daniel Freund ist nicht nur überzeugter Europäer, sondern auch Mitglied des Europäischen Parlaments für die grüne Fraktion. Freund war 2014 – 2019 bei Transparency International tätig, wo er die Arbeit zur Korruptionsbekämpfung in den EU Institutionen geleitet hat .

Madeleine Henfling: Daniel, erst einmal herzlichen Glückwunsch zum Einzug in das Europäische Parlament. Du bist eines von 75 Mitgliedern der grünen Fraktion. Welches sind deine Schwerpunktthemen?

Daniel Freund: Im Europaparlament sind meine Themen aufgrund meiner Arbeit bei Transparency International natürlich weiterhin Transparenz und Demokratie. Undurchsichtige Beeinflussung von Gesetzen oder Verstöße gegen Ethikregeln sind die Probleme, die mich beschäftigen: Wie kann die Arbeit in Brüssel transparenter und bürgernäher werden, wie kann Korruption bekämpft werden? Daneben kümmere ich mich um die Zukunft der EU. Der Ausbau der europäischen Demokratie durch wirklich europäische Wahlen, oder das Abschaffen der Einstimmigkeit im Europäischen Rat sind wichtige Themen. Beschäftigen werden mich auch noch die Stärkung eines europäischen Nachtzugnetzes und die Einführung einer wirksamen Kerosinsteuer im Verkehrsausschuss. Es gibt viel zu tun in Europa!

Madeleine Henfling: Die Wahl der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyens erzeugte viel Aufmerksamkeit. Auf Kritik gestoßen ist, dass der wichtigste Posten der Europäischen Union nicht demokratisch, sondern in Hinterzimmern vergeben wurde. Welche Gefahren bestehen deiner Meinung nach in dieser Form der Postenvergabe und wie sollte die Bestimmung eines oder einer EU-Kommissionspräsident*in erfolgen?

Daniel Freund: Die Nominierung einer Person zur Kommissionspräsident*in, die oder der zuvor noch gar nicht zur Wahl stand, stellt einen Schaden für den Fortschritt der europäischen Demokratie und das Vertrauen der Bürger*innen in die europäischen Institutionen dar. Jede*r Europäer*in sollte sich sicher sein, dass sie oder er mit der eigenen Stimme demokratischen Einfluss auf die Vergabe der europäischen Top-Posten hat. Genau deshalb brauchen wir echte europäische Wahlen in Form von transnationalen Wahllisten anstelle von 28 Wahlen, die zufällig in der gleichen Woche stattfinden. Dem müssen wir uns widmen, damit die Wahlbeteiligung beim nächsten Urnengang in fünf Jahren nicht massiv einbricht. Wir hatten ja im Sommer bereits Koalitionsgespräche mit den anderen Fraktionen geführt. Doch mit der Nominierung von der Leyens waren die beendet – es ging lediglich um die Postenverteilung. Europäische Herausforderungen wie die Klimakrise können so nicht angegangen werden.

Madeleine Henfling: Wie hast du das Machtpoker um die wichtigsten Posten in Brüssel erlebt?

Daniel Freund: Anfang September hat Ursula von der Leyen ihre Kandidat*innen für die zukünftige Kommission vorgestellt. Soviel vorab: Einige der gehandelten Namen werden es schwer haben im Parlament. Was die Wahl der neuen Kommissionspräsidentin im Juli anbelangt: Ich war ehrlich schockiert, als ich den Ratsvorschlag das erste Mal gehört habe. Zumal es bei von der Leyen in erster Linie darum ging, die Bedürfnisse einiger Regierungen in Osteuropa zu befriedigen. In den Tagen darauf hat Ursula von der Leyen um unsere Stimmen geworben – aber nicht verhandeln wollen. Wir haben von Anfang an eine Koalition angestrebt und waren mit Manfred Weber zu diesem Zeitpunkt schon lange im Gespräch. Ursula von der Leyen mied aber jegliche verbindlichen inhaltlichen oder personellen Festlegungen und Absprachen. So kann keine ernsthafte Koalition gebildet werden. Und bei den zentralen grünen Themen – Klimaschutz, Seenotrettung, Weiterentwicklung der EU – blieb sie relativ schwach. Meine Stimme hat sie daher nicht bekommen.

Madeleine Henfling: Warum sprechen wir Bündnisgrüne uns seit Langem für transnationale Listen und das System der Spitzenkandidat*innen aus?

Daniel Freund: Weil die Wahlen zum europäischen Parlament erst dann tatsächlich europäisch werden, wenn sie mit den nationalen Paradigmen brechen. Nur mit transnationalen Wahllisten stehen die Spitzenkandidat*innen tatsächlich für alle Wähler*innen zur Wahl, und der Wahlkampf wird damit zu einer europäischen Angelegenheit. Öffentlichkeit und Berichterstattung wird hergestellt, und Bürger*innen wählen dieselben politischen Inhalte, wenn sie für die gleiche Partei stimmen. Im jetzigen System der Fraktionen und Parteifamilien gibt es ja teils massive inhaltliche Unterschiede – man denke an die Unionsparteien aus Deutschland und Fidesz aus Ungarn, die jahrzehntelang zusammen in der EVP sitzen. Wenn Bürger*innen europäische Parteien wählen können, ist das somit transparenter und ehrlicher, als es bei der Wahl eines Parlaments durch 28 verschiedene Wahlsysteme der Fall ist.

Madeleine Henfling: Welche Schwerpunktthemen könnten von der neuen EU-Kommissionspräsidentin gesetzt werden? In welche Richtung könnte sich die EU entwickeln?

Daniel Freund: Wir stehen weltweit vor riesigen Herausforderungen, allen voran Klimanotstand, Handelskonflikte, Verkehrs- und Energiewende. Und die lassen sich nicht auf nationalstaatlicher Ebene lösen, sondern nur mit der EU. Das sind also die dringenden Themen, die von der Leyen angehen muss. Und genau deshalb muss die Europäische Union deutlich demokratischer, transparenter und effektiver werden. Auch deswegen fordern wir eine unabhängige Ethik-Behörde, die Parlamentarier und EU-Beamte kontrolliert und letztendlich auch Sanktionen aussprechen kann. Die Handlungsfähigkeit der EU insgesamt muss durch mehr gemeinsame Kompetenzen gestärkt werden, und die Blockade durch Einstimmigkeit im Europäischen Rat gehört abgeschafft.

Madeleine Henfling: Bevor du Abgeordneter wurdest, arbeitetest du bei Transparency International in Brüssel. Hier hattest du die Leitung der Abteilung für Korruptionsbekämpfung bei EU-Institutionen inne.

Inwieweit beeinflusst deine bisherige Tätigkeit deine zukünftige Arbeit im EU-Parlament?

Daniel Freund: Den Kampf gegen Korruption, undurchsichtiges Lobbying und Interessenskonflikte führe ich natürlich weiter, aber jetzt eben aus einer anderen Position heraus. Mit der Erfahrung, dass Unternehmen in intransparenter Weise an EU-Gesetzen mitschreiben und politische Entscheidungsträger*innen unvermittelt in genau die Verbände und Unternehmen wechseln, die sie zuvor reguliert haben, trage ich auch die Stimme der Zivilgesellschaft ins Parlament. Selbst in der EU gerät diese mittlerweile zunehmend unter Druck – umso wichtiger ist es für mich, eng mit zivilgesellschaftlichen Akteur*innen zusammenzuarbeiten.